Nazims Bäckerei war in der gesamten Region bekannt und erfreute sich bei den Kunden großer Beliebtheit. Sowohl Erwachsene als auch Kinder liebten seine köstlichen Backwaren. Für seine kleinen Fans gewährte Nazim stets einen Rabatt, was den Eltern ein Lächeln auf die Lippen zauberte und große Dankbarkeit hervorrief.
Nazim war vor vielen Jahren mit seiner Familie nach Russland gekommen, als nach dem Zerfall des großen Staates in seiner Heimatregion massive Unruhen und Arbeitslosigkeit herrschten. Der fleißige Mann hatte viele Jahre als Straßenarbeiter und Hausmeister gearbeitet, bis er eines Tages zufällig ein Café besuchte, das sich auf orientalische Küche spezialisiert hatte. Dort stellte er mit Erstaunen fest, dass die angebotenen Backwaren eines Bäckers nicht annähernd denen ähnelten, an die er sich aus seiner Kindheit gewohnt hatte, da qualifizierte Fachkräfte in diesem Bereich sehr rar waren.
Genau in diesem Moment entstand in Nazim die Idee, eine kleine Bäckerei zu eröffnen, in der er zusammen mit seiner Frau Fatima die Kunden mit köstlichen orientalischen Gebäcken erfreuen könnte. Natürlich war der Weg zum Traum steinig und schwierig, doch dank Ausdauer und Zielstrebigkeit erreichte er sein Ziel. Seit dem Backen der ersten Brötchen waren viele Jahre vergangen, in denen Nazim Vater und Großvater geworden war.
Der gutmütige und hilfsbereite Mann liebte Kinder und behandelte sie oft kostenlos, überzeugt davon, dass „Kinder die Blumen des Lebens sind“. Zudem versorgte er stets streunende Tiere und half dem städtischen Tierheim. Weise war er der Ansicht, dass Hunde und Katzen Freunde des Menschen seien und dass sein Tag nicht vergeblich war, wenn er wenigstens ein kleines Leben gerettet hatte. Auch an jenem Morgen begann der mitfühlende Bäcker seinen Tag damit, zwei streunende Hunde und eine alte britische Katze zu füttern, die grausam auf die Straße geworfen worden war.
Während Fatima in der Küche die knusprigen Brötchen und Teigtaschen wendete, stellte Nazim draußen ein Tablett mit den Resten vom Vortag bereit, um die hungrigen Tiere zu füttern.
„Einen Moment bitte… Beeilt euch nicht, ihr Lieben! Es reicht für alle“, sagte er geduldig, bis die armen Lebewesen fraßen.
Plötzlich berührte ihn jemand vorsichtig an der Schulter und fragte mit leiser Stimme:
„Darf ich auch ein Stück Brot haben?“
Nazim drehte sich um und sah zu seiner großen Überraschung ein zehnjähriges Mädchen, das ihm zögerlich die Hand entgegenstreckte.
„Ach was, mein Kind… Warum willst du trockenes Brot von gestern? Hier, nimm dieses frische Brötchen direkt aus dem Ofen! Möchtest du das?“ fragte Nazim aufgeregt, sein Herz zog sich zusammen beim Anblick des dünnen, blassen Mädchens.
„Entschuldigen Sie… Aber ich habe kein Geld, um etwas zu kaufen“, sagte das Mädchen schuldbewusst, den Blick gesenkt, während es im Fäustchen einige Münzen zählte.
„Wovon sprichst du? Geld? Nimm es einfach, hörst du? Ich habe einen Enkel in deinem Alter… Wie würde ich dastehen, wenn ich dein Geld nehmen würde?“ antwortete Nazim hitzig, öffnete die Tür und verschwand in der Küche.
Dort packte er eine Papiertüte, füllte sie mit frischen Teigtaschen und Brötchen und legte dann nach kurzer Überlegung ein Paar Pfirsiche und einen süßen Apfel dazu.
„Hier, nimm das… Wenn du großen Hunger hast, setz dich auf die Bank und iss in Ruhe“, schlug der Bäcker vor.
„Vielen Dank für die Leckereien, Onkel, aber ich muss weiter“, murmelte das Mädchen schuldbewusst, lächelte und drückte die Tüte an ihre Brust, bevor es sich in Richtung Stadtplatz aufmachte.
„Schau sie dir an, so klein und schon allein auf den Straßen… Das ist nicht richtig“, sagte Fatima mit Tränen in den Augen.
In diesem Moment überkam Nazim eine unerklärliche innere Unruhe. Er riss sich sein Schürzchen herunter und versprach seiner Frau, bald zurückzukehren. Dann winkte er Fatima zum Abschied und eilte der langsam verschwindenden Gestalt des Mädchens nach.
Obwohl sie noch ein Kind war, schaffte er es erst auf dem Platz, sie einzuholen. Gerade als er nach Luft rang, um sie anzurufen, bemerkte er einen riesigen Hund unbekannter Rasse, der auf das Mädchen zulief.
„Laki, Laki, komm zu mir, mein Junge! Schau, was ich für dich habe“, rief das Mädchen aufgeregt und zog ein frisches Brötchen aus der Tüte.
Der Hund kam artig herangetrabt, stoppte, wedelte mit dem Schwanz, schnappte sich das Brötchen im Flug und reichte es auf den Hinterbeinen stehend seiner kleinen Besitzerin.
„Ich habe dich so vermisst, mein guter Junge… Habe ich dir nicht gesagt, dass ich bald zurückkomme?“ flüsterte das Mädchen und glitt mit den Fingern durch das dichte, grobe Fell.
Nachdem der Hund das Brötchen verschlungen hatte, ging das Mädchen zu einem Klappstuhl, der neben einer leeren Schuhschachtel und einem kleinen Gummiball unter einem Baum stand. Offensichtlich hatte sie Laki als Wächter zurückgelassen, während sie sich etwas zu essen besorgte. Sie selbst wirkte mindestens ebenso hungrig wie der Hund.
„Na, Laki… Bist du bereit? Dann lass uns anfangen!“ kommandierte das Mädchen, während sie den Ball aufpflückte und in die Luft warf.
In diesem Moment sprang der Hund anmutig hoch, fing den Ball in der Luft und gab ihn der Besitzerin mit demonstrativer Eleganz zurück. Daraufhin begannen die beiden einstudierte Tricks und Zaubereien, die sofort die Neugier der Passanten weckten. Die Zuschauer klatschten und lachten vergnügt etwa zehn Minuten lang.
Am Ende der Vorstellung verneigten sich das Mädchen und ihr Hund vor den Zuschauern und gingen mit der Schuhschachtel zwischen den Reihen umher. Niemand blieb ungerührt: Glitzernde Münzen und zerknitterte Geldscheine fielen hinein. Gelegentlich war ein Geldschein dabei, meist handelte es sich jedoch um Zwei- und Fünf-Rubel-Münzen. Beim Anblick dieser Szene stiegen Nazim unwillkürlich Tränen in die Augen; er griff in seine Brieftasche und zog mehrere Tausend-Rubel-Scheine sowie eine Handvoll Kleingeld hervor.
Als das Mädchen die Spende sah, hob es überrascht die Augen und sagte:
„Onkel, da haben Sie sich bestimmt geirrt… Das ist viel zu viel Geld… Sie haben uns doch schon mit dem Essen geholfen…“
„Nimm es, mein liebes Kind… Du hast es dir verdient… Schau nur, was für eine Show du hingelegt hast! Wie ein echter Zauberer!“ rief Nazim bewundernd und stieß sanft die Hand des Mädchens weg, die ihm die großen Scheine entgegenstreckte.
Das Mädchen erwiderte ein liebenswertes Lächeln, schloss die Schachtel in ihren Rucksack und klappte den Stuhl zusammen.
„So, nun ist es Zeit für Laki und mich, nach Hause zu gehen“, sagte sie ernst und befestigte die Leine am Halsband des Hundes.
Im letzten Moment kam Nazim der Gedanke, das Mädchen bis zu ihrem Zuhause zu begleiten, damit es sicher ankam. Zu seiner Freude stimmte das Mädchen zu. Auf dem Weg erzählte sie ihm ihre Geschichte: Sie hieß Nastja und wohnte mit ihrer Mutter in einem benachbarten Hochhaus.
„Mein Gott… Welche Mutter erlaubt so etwas ihrer Tochter?“ dachte Nazim, tief berührt von der Darbietung.
Doch Nastja sah nichts Verwerfliches darin und berichtete, dass sie vor zwei Jahren einen winzigen Welpen in einem Sack neben Müllcontainern gefunden hatte. Er war kaum zwei Wochen alt und quiekte, suchte nach Milch. Hätte der Laut nicht auf sich aufmerksam gemacht, wäre sie vorbeigegangen, ohne das kleine Wunder zu entdecken. Nastja hatte den Welpen einen Monat lang mit der Flasche aufgezogen und ihn Laki genannt, was auf Englisch „Glückspilz“ bedeutet.
Aus dem Gespräch erfuhr Nazim, dass Nastja in der Schule tadellose Noten hatte, was ihn an seinen Enkel Ruslan erinnerte, der mit dem Lernen große Schwierigkeiten hatte.
„So, wir sind da… Wenn du möchtest, kannst du hineingehen… Meine Mutter wird sich sehr freuen, dich zu sehen“, sagte das Mädchen und deutete auf die Eingangstür.
Nazim zögerte kurz, ließ sich dann aber vom Lächeln Nastjas überzeugen und betrat die Wohnung, gefolgt von Laki, der ungeduldig winselte.
„Wie war dein Tag, mein Kind? Du warst so lange draußen… Ich verstehe ja, dass Schulferien sind, aber…“ fragte eine erschöpfte Stimme, als eine Frau sich an die Wand stützte und langsam näherkam.
„Nein… Das kann nicht sein! Sie ist betrunken? Sie lässt ihre Tochter betteln und selbst…“ – dachte Nazim schockiert.
Als die Frau ins Licht des Flurs trat, klopfte sein Herz schneller: Es war eine junge, schöne Frau mit verbundenen Händen, blind, die sich an der Wand abstützte. Nazim kämpfte gegen die Tränen. Nastja nahm ihre Mutter bei der Hand und setzte sie behutsam auf einen Küchenstuhl.
„Wie ist das passiert? Bist du blind geboren?“ stammelte Nazim, während die Frau sich an die Teetasse tastete.
„Nein… nicht von Geburt an… Es war ein Unfall vor sieben Jahren. Nastja war damals bei der Großmutter, die sie rettete. Mein Kolja ist gestorben, und ich bin jetzt dazu verdammt, mein Leben lang im Dunkeln zu verbringen“, sagte Tatiana traurig.
„Aber nicht für immer! Du hast doch selbst gesagt, dass es im Ausland Behandlungen gibt!“ rief Nastja entschlossen.
„Vielleicht… aber woher nehmen wir das Geld? Wie soll ich als Blinde genug verdienen, um eine Operation zu bezahlen?“ antwortete Tatiana hoffnungslos.
Nazim spürte erneut einen Schmerz im Herz und blickte zum alten Kühlschrank, auf dem ein Glas mit Kleingeld stand. Ein Zettel trug die Aufschrift: „Für Mamas Operation“. In diesem Moment verstand Nazim – Nastja trat heimlich auf der Straße auf, um das Geld für die Operation ihrer Mutter zu sammeln. Sein Herz zog sich vor Mitgefühl zusammen. Als er heimkehrte, erzählte er der Familie von ihrem Schicksal.
„Wir müssen dem Mädchen helfen… Aber was können wir tun?“ fragte Fatima mitfühlend und wischte sich eine Träne vom Schürzenrand.
„Zunächst holen wir sie von der Plaza ab und laden sie ein, hier in der Bäckerei aufzutreten. So hätte sie zu essen und stünde unter Aufsicht“, schlug Nazim vor.
Nach kurzer Beratung beschlossen sie, seinem Rat zu folgen. Und am nächsten Tag traten Nastja und Laki bereits an der Mauer der Bäckerei auf. Zu Nazims Erstaunen stürzten die Kunden die Theke leer – in zehn Minuten waren alle Backwaren verkauft. Er hatte noch nie so hohe Umsätze erzielt. Emotionen überwältigten ihn: Er weinte vor Freude und umarmte Nastja, während Laki mit Fleischteigtaschen gefüttert wurde.
Zusätzlich zu Nastjas Einnahmen legte Nazim noch mehrere Tausendrubel-Scheine in die Spendendose.
„Du bist ein wahres Wunderkind…“ flüsterte er zärtlich und strich ihr über das Haar.
Nastja trat zwei Tage lang in der Bäckerei auf, und am dritten Tag wachte sie als Berühmtheit auf: Ruslan hatte das Video ihres Auftritts ins Internet gestellt – es ging innerhalb weniger Stunden viral und erregte landesweites Aufsehen. So gewann die Bäckerei von Nazim unverhoffte Werbung und Nastja und Laki wurden über Nacht berühmt.
Um der Nachfrage gerecht zu werden, stellte Nazim neues Personal ein und richtete zwei Schichten ein. Doch die gravierendsten Veränderungen betrafen Nastja: Sie erhielt Tausende von Sponsorangeboten, und ihr Bild wurde zu einem Erfolgsfaktor für große Industriefirmen. Innerhalb weniger Tage war das Geld für die Operation gesammelt. Nazim, der bereits Kontakt zu einer Augenchirurgieklinik in der Schweiz hergestellt hatte, überbrachte Tatiana die erlösende Nachricht.
„Es ist, als würde ich träumen… Sobald ich aufwache, bin ich wieder in der Dunkelheit und Armut“, flüsterte Tatiana, während sie Nazims Hand tastete.
„Doch es ist kein Traum… Die Operation wird dein Augenlicht zurückbringen!“ sagte Nastja, während sie ihre Mutter in festliche Kleidung hüllte.
Damit Tatiana während der Reise nicht allein war, schickte Nazim seinen Neffen Timur mit, einen freundlichen jungen Mann, der sich um die beiden kümmerte. Einzig Laki konnte aufgrund fehlender Papiere und Impfungen nicht mitkommen; er lebte während der Abwesenheit bei Nazim und vermisste seine Familie sehr.
Doch nichts währt ewig, auch nicht die Traurigkeit. Eines Tages, als Tatiana zusammen mit Nastja die Flugtreppe hinabstieg, sprang Laki freudig in ihre Arme und schleckte sie überschwänglich ab.
„Vorsicht, mein Schatz… Du fällst uns sonst um“, lachte Nastja.
Doch Laki ließ sich nicht aufhalten. Hinter ihnen folgte Timur, dessen Herz sich in diese starke, mutige Frau verliebt hatte.
Zu Hause wurden Nastja und ihre Mutter wie Helden empfangen. Ihr Beispiel schenkte vielen anderen Menschen in Not neuen Mut und Hoffnung. Nazims kleiner Laden wuchs zu einer Kette von Geschäften mit Spezialitäten orientalischer Backkunst heran. Tatiana, inzwischen verheiratet mit Timur und wieder sehend, arbeitet als Filialleiterin. Nastja, einst Straßenkünstlerin, lernt weiterhin mit Bestnoten und möchte nach dem Abitur eine Theaterakademie besuchen. Und Laki, treuer Gefährte, genießt nach wie vor die Leckereien Nazims, dankbar für die Kette der Güte, die alles ins Rollen gebracht hat.